Ecstasy

Brücken sind immer schön. Sie haben die Würde des Dienens und sind immer gerade da, wo man sie braucht, und wenn es auch nur ein Brett über einem Abgrund ist. Hässliche Brücken gibt es nicht.

Zu meinem Bild „Ecstasy“ hat mich das Lied von der „Brücke von Avignon, über die alle Leute tanzen“ inspiriert. Auf dem abbröckelnden Rest eines Brückenbogens tanzt eine außer sich geratene Gruppe junger Menschen offenbar kurz vor dem entgültigen Einsturz. Auf dem sicherstehenden Bogenstück raucht ein feiner Herr völlig ungerührt genüsslich seine Zigarre.

Wolfgang Lettl - Ecstasy - 1995

Der Sinn des Bildes ist leicht zu erfassen, ja er drängt sich direkt auf:
Auf der Brücke tanzen die Drogensüchtigen in ihr Unheil, der feine Herr am Rand ist der Verführer und Dealer, der vom schmutzigen Geschäft lebt.

Aber wenn sonst nichts wäre, wäre die Situation auch anders darzustellen, so wie es wirklich ist, illustriert mit Fotos aus dem Milieu, mit viel weniger Mühe und dazu noch überzeugender. Und man brauchte es gar nicht darzustellen, weil es ohnehin schon jeder weiß.

Das Bild hat seinen Sinn aber nicht in der Dokumentation eines Vorgangs, auch nicht in der Darstellung seiner moralischen Verwerflichkeit, sondern in der dem Bild eigenen Schönheit, und das ist etwas ganz anderes.

Dargestellt ist eine Gruppe tanzender, aber es ist gar keine Gruppe tanzender da, sondern wild durcheinandergeratene Körperteile und verschiedene Gegenstände, die im einzelnen nicht immer zu definieren sind und sich überhaupt nicht logisch erklären oder sinnvoll einfügen lassen. Um es vielleicht so zu sagen: Es ist keine Gruppe tanzender dargestellt, sondern der Verlust jeglicher Kontrolle, der Wahnsinn des Rausches, des sinnlosen Außer-Sich-Geratens.

Aber was heißt „außer-sich-geraten“? Kann „außer-sich-geraten“ nicht auch positiv gedeutet werden? Was kann denn „Extase“ alles bedeuten?

Ob ein Bild gut oder schlecht ist hängt nicht davon ab, was man darüber denken oder erzählen kann. Die „Bildsprache“ geht nicht über den Verstand, sondern über das Empfinden. Wenn die Gruppe auf der Brücke überzeugend dargestellt ist, muss man nicht erzählen können, warum das so ist, und wenn sie nicht überzeugend wäre, wäre sie überflüssig. Wie man es machen muss, dass ein Bild ein gutes Bild ist, das weiß ich auch nicht. Das einzig Sinnvolle ist vielleicht: Nie ein Bild malen, das schlechter ist als ein früheres. Aber mach das mal einer!

Aber ganz stimmt das auch nicht, was ich geschrieben habe.
Der schwarz gekleidete Herr auf dem noch festen Teil der Brücke hat seine Begründung nicht nur als Dealer, sondern vor allem als ruhiger Gegensatz zu der aufgeregten Tänzergruppe und zur Störung eines ansonsten allzu selbstgefälligen Gleichgewichts der Farb- und Bildkomposotion.

Freundliche Grüße

Wolfgang Lettl