Frühlingserwachen

oder


Das Ende der Fahnenstange


Erzählung von Wolfgang Lettl






Ich ging in einer fremden Stadt spazieren.

Eigentlich hätte ich an einem Empfang im Rathaus teilnehmen sollen, denn ich war Mitglied einer Delegation, die zwecks irgendwelcher kultureller Angelegenheiten, von denen ich nichts verstand, in dieser Stadt weilte. Aber ich war kein so prominentes Mitglied dieser Delegation, daß ich hätte annehmen müssen, mein Fehlen würde unangenehm auffallen, oder gar, ich gehörte zu jenen, die der Oberbürgermeister glaubte, trotzdem er alle gleichermaßen willkommen hieße, doch namentlich erwähnen zu sollen, wenn auch nur last but not least, ja es war äußerst unwahrscheinlich, daß überhaupt jemand mein Fehlen bemerken würde. Ich verzichtete also ruhigen Gewissens auf das kalte Buffet und ging spazieren, ohne etwas Bestimmtes zu wollen oder zu suchen, und sog den Reiz der Fremdheit in mich ein.

Die Abordnung

Die Abordnung, 1980


Die Gegend war ein vornehmes Wohnviertel aus dem vorigen Jahrhundert, mehr oder weniger Jugendstil, einige im Krieg zerstörte Häuser waren arg nüchtern wieder aufgebaut. Ich näherte mich einem kleinen Park mit Buchen und Platanen, ja es müssen schon Platanen gewesen sein, wenn mir auch die Art, wie sich ihre Rinde abschälte, etwas sonderbar erschien, sie blätterte sich ab in großen Fetzen, wie Papier.

Eine junge Frau kam mir entgegen, wohl auf dem Weg ins Büro oder zum Einkaufen, sie streifte mich mit einem kurzen vertrauenden Blick ihrer dunklen Augen in der Art, wie es zuweilen vorkommt, wenn eine Frau bei einem älteren Mann die weißen Haare für ein Zeichen von Weisheit oder wenigstens von Harmlosigkeit hält.

Der alte Mann und das Mädchen

Der alte Mann und das Mädchen, 1992


So richtig gewahr wurde ich dieser Begegnung erst, als sie schon vorbei war und eine dezente Duftwolke meine Nase erreichte, denn ich war mit meinen Gedanken ganz wo anders, nämlich beim Gockel meines Nachbarn Antonio. Der hatte ihn geschlachtet, nur deswegen, weil er ihm seine fünf Hennen nicht gönnte. Kein Kikeriki mehr, nur das traurige Gegacker der Witwen. Nun gibt uns zwar der Tod eines Gockels keine Berechtigung zu all zu großer Trauer.

Ich habe mal eine Geschichte gelesen von einem Schwein, das in Schwermut verfiel, weil es nicht geschlachtet worden war, wo es doch geschlachtet, gebraten und verwurstet zu werden als seine ihm auferlegte Bestimmung und seinen einzigen Lebenszweck erkannt hatte, den zu verfehlen ihm als das größte Unglück erscheinen mußte. Ob das ein Hahn auch so sieht, oder wenigstens so ähnlich, weiß ich nicht und spielt hier auch keine Rolle, denn an meiner ganz persönlichen Trauer um den Gockel hätte das nichts geändert, und weil ich Künstler bin, nahm diese Trauer unter einer der Platanen Gestalt an und formierte sich zum Requiem für einen Hahn:

Hahn 5

13 Versuche ein Hahn zu werden (V.), 1978


Auch Hennen können gackern,

doch zum großen Kickeriki

fehlt leider halt die Phantasie.


Mehr braucht's nicht für einen Gockel, sagte ich mir, man soll nichts übertreiben.

Eine Elster krächzte über mir, und wie ich ihr so nachsah, wurde ich eines Schlauchboots ansichtig, besetzt mit drei Futurologen, die über mir durchs Geäst ruderten. "Da wird es wohl bald Hochwasser geben", sagte ich zu mir.

Die Begegnung

Die Begegnung, 1985


Der Park war doch etwas größer als ich angenommen hatte. Zwei Herren waren stehen geblieben und redeten heftig aufeinander ein, ihre Worte mit ausdrucksreichen Gesten begleitend, das erregte meine Neugier. Dezent tat ich so, als sei soeben mein Schuhbändel gerissen, und machte mich daran, ihn zu reparieren.

"Das Ozonloch", sagte der größere der beiden, breitgebaut mit schon angegrauten Schläfen und rosigen Teint, "das Ozonloch bringt uns noch alle um. Man traut sich kaum noch ins Freie zu gehen. Immer mehr Menschen..." - "Ja, immer mehr Menschen begeistern sich für die Philatelie", warf der kleinere ein, er hatte schütteres Haar und eine zerknautschte dunkelgraue Hose, "man kann sich nichts Interessanteres vorstellen als Briefmarken, aber man muß sich spezialisieren, es gibt so viele, man kann nicht alles sammeln." - "Nein", sagte der andere, "man kann nicht alles sammeln, es ist zu viel. Neulich haben wir mit ein paar Schulklassen ein Waldstück gesäubert: Plastiktüten, Blechdosen, Autoreifen, Bierflaschen, Fahrräder, alles gesammelt, sortiert und abtransportiert. In ein paar Wochen sieht es wieder aus wie vorher. Und was nützt es, wenn wir die Umweltproblematik erkennen, aber in Afrika und Südamerika...", unterbrach ihn der andere, "da hab ich auch meine Freunde, in Colatina, Teira de Santa und Guayaquil.

Irrigma

Irrigma, 1995


Wir schicken uns gegenseitig die neuesten Sondermarken mit Sonderstempel, aber mich interessieren eigentlich nur die mit Vogel- und Insektenmotiven, auf die bin ich spezialisiert..." - "Ja, die Vögel werden auch immer seltener, von Schmetterlingen ganz zu schweigen, jeden Tag sterben zehn Arten aus."

Die beiden begannen nun gleichzeitig zu reden, und ich konnte nur noch einige Brocken verstehen, wenn der jeweils andere gerade Atem holte oder sich schneuzte. Ich beendete das Herumgetue an meinem Schuhbändel und richtete mich auf. Da erst nahmen die beiden meine Anwesenheit zur Kenntnis, beendeten ihr Gespräch und gingen weiter, ich schlenderte in kurzem Abstand hinterdrein.

Der Plan

Der Plan, 1994


Wir näherten uns einer kleinen Brücke. Die beiden gingen aber nicht darüber, sondern daneben an den Bach und sahen etwas zögerlich und verlegen zu mir her. Ich blieb auf der Brücke stehen und schaute ins Wasser. Am Rand meines Gesichtsfeldes sah ich, wie der größere ganz sonderbar erstarrte, und wie er so dastand, wurde er etwa einen halben Meter größer, streckte beinahe feierlich die Arme in die Höhe und kippte ganz langsam und ohne einzuknicken von der Vertikalen in die Horizontale über den Bach und erreichte mit den Händen das andere Ufer. "Wissen Sie", rief der kleinere entschuldigend mit verschämtem Grinsen in meine Richtung, "wir mißtrauen allen Brücken" und machte sich daran, den Bach über seinen, wie ein Brett steif daliegenden verlängerten Freund zu überqueren.

Das war mir nun doch zuviel und ich ging weiter. Die Buchen und Platanen wurden von Eichen abgelöst, die fast alle von Efeu überwuchert waren, was dem Park eine eigenartig dunkle, feierlich traurige Stimmung verlieh, und das zunächst geschwätzige Gezwitscher der Vögel ging in verhaltene Moll-Tonart über.

Doch bald wurde es heller. In einer Lichtung lag eine große eiserne Röhre, übermannshoch und ziemlich rostig, so um die 50 Meter lang, es können auch hundert gewesen sein. Fratzenhafte Gesichter und sonderbare Wörter waren schwarz und bunt aufgesprüht, in der Röhre fuhren Halbwüchsige Skateboard und kreischten und pfiffen, weil es so herrlich dröhnte und hallte.

Die Röhre

Die Röhre, 1988


Der Pressefotograf packte eilig seine Utensilien zusammen, er mußte offensichtlich gleich wieder zum nächsten Termin. Die Damen und Herren, die sich für den Fotografen vor der Röhre gruppiert hatten, lockerten sich wieder auf in betont lässiger Art, die vortäuschen sollte, daß sie sich für so wichtig ja gar nicht hielten, und der Experte mit dicker Brille und blondem Kometenschweifhaarschopf sagte unter Hinweis auf die Skateboardsportler, er freue sich, wie dieses zunächst so hart umstrittene Kunstwerk jetzt doch von der Bevölkerung angenommen werde. Dann erklärte er mit gelangweilter und etwas mißmutiger Miene - offensichtlich war er gewohnt, vor besserem Publikum zu sprechen - daß die Röhre mit der einen Öffnung direkt auf die Cheopspyramide ziele und mit der anderen nach Stonehenge, dem Sitz der keltischen Götter, womit sie die uralten kosmischen Mysterien enigmatisch und doch in für jedermann nachempfindbarer Kommunikation miteinander in Verbindung bringe. Er ließ seinen Zuhörern etwas Zeit zum Staunen und forderte sie dann auf, mit ihm die Röhre erst außen abzuschreiten und dann in das Innere vorzudringen, um, wie er sagte, die Gegensatzpaare außen-innen, hell-dunkel, konvex-konkav, weit-eng und offen-überdacht hautnah zu erfahren.

Ich ging weiter und kam vor ein großes Gebäude, in das viel Volk hineinströmte.

In Anbetracht des sich verdunkelnden Wolkenhimmels strömte ich mit und sah auch bald ein Plakat mit der Ankündigung der bevorstehenden Veranstaltung. Es handelte sich um Vorträge und Darbietungen zum Thema: "Eine Menschheit - eine Sprache". Gemeint war damit offensichtlich nicht Esperanto oder Ähnliches, sondern die Entwicklung einer neuen Sprache aus den allen Menschen gemeinsamen Urlauten. Ich wurde neugierig.

Die Akademie der schönen Künste

Die Akademie der schönen Künste, 1995


Der Versammlungsraum war in der 2. Oberetage und hatte eine Bühne und hohe Fenster. Die Sitzplätze reichten nicht aus, so groß war der Andrang. Bald verstummten das Stühlerücken und Gemurmel und ein Sprecher kündigte die erste Darbietung an. Der Vorhang ging auf: ein Tisch und ein Stuhl, auf dem Stuhl eine junge Mutter, auf dem Tisch ihr Junges. Nach kurzer Stille plapperte das Kind: Mamama grr grr und darauf die Mutter: babababa bazi bubi bäh dududu kille kille. Das war tatsächlich ohne Sprachkenntnisse zu verstehen, und der Redner meinte in überzeugtem Tonfall, daß er sich sehr wohl vorstellen könne, wie man auf dieser Grundlage aufbauend eine weltweit allgemein-verständliche Sprache entwickeln und so nicht nur der sprachlichen Verständigung unter den Völkern die Wege ebnen könne. Die nächste Darbietung, meinte er dann, stelle allerdings im Vergleich zu dieser schon einen gewaltigen Fortschritt dar.

Die Emanzipation der Fische

Die Emanzipation der Fische, 1976


Einer attraktiven Dame, schwarzgelockt, rote Stiefel mit Pelzbesatz und silbernen Hafteln, mit einer lindgrünen Opa-Unterhose, die ihre Anatomie deutlich zur Geltung brachte, näherte sich zaghaft ein junger Mann in einer Art Büßergewand; mit schmachtendem Blick und flehend ausgebreiteten Armen wiederholte er immer wieder: ooh, ahh, uuh, im Tonfall, der von Bewunderung über Geseufze in Anbetung überging, und dann dasselbe rückwärts und immer wieder so weiter. Die Angebetete stand da mit huldvoller und doch abweisender Miene, drehte sich dann herum und wackelte spöttisch mit dem Hintern. Das gab dem Schmachtjüngling den Rest, in wilder Verzückung zerriß er sein Büßerhemd und mit einem herzzerreißenden, inbrünstigen "Schnuckibutzi" wollte er die Schöne an sich reißen. Sie aber wich gekonnt einen halben Schritt zurück und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Sein mit entsetzt aufgerissenen Augen mehr gewimmertes als geschrienes langgezogenes: "Aauu" erntete den spontanen Beifall des Publikums, das auch diesmal keine Schwierigkeiten hatte, zu verstehen.

Die Arche

Farbskizze o.T., 1993


Durchs Fenster sah ich indes das Schlauchboot mit den Futurologen am Himmel herumfahren, es kam so nahe, daß ich am Bug den Namen entziffern konnte: "Arche Noah". Die drei gestikulierten, als wollten sie uns vor etwas Schrecklichem warnen, sie riefen angestrengt, aber niemand verstand sie, ihren Stimmen fehlte der Ton. "Ihr mit eurer Sintflut", sagte ich zu mir, "beruhigt euch, so schnell geht das nicht."

Als der Beifall abgeklungen war, meldete sich wieder der Sprecher zu Wort. Er sprach von Mutter-Kind-Beziehung und Erotik und leitete dann über zum ebenfalls schon den Höhlenbewohnern des Paläolithikums bekannten "Hurra!", schritt dann auf dem somit betretenen Kriegspfad weiter zu "peng peng" und "bum bum", was allerdings die Erfindung des Schießpulvers voraussetzte. "Peng peng" hatte es ihm offensichtlich angetan, es schien sich zur Untermauerung seiner Darlegungen besonders zu eignen, er fuchtelte mit beiden Armen herum, als hätte er in jeder Faust einen Revolver und mit blitzenden Augen schleuderte er sein "peng peng" in die Luft.

Wie er da wildgestikulierend herumknallte, kam unversehens aus den Kulissen ein Mädchen gerannt mit entsetzlich roter Perücke und bekleidet lediglich mit einem hellroten, viel zu kurzem Hemdchen. Begeisterter Beifall erscholl, als das Mädchen "fire fire" schrie. Das Publikum geriet außer sich vor Begeisterung über diese geglückte Darbietung; einige waren erschrocken, so echt war der Feueralarm dargestellt. Aber als kurz darauf die Flammen in den Kulissen zu züngeln begannen, wurde allen klar, daß das kein Spiel mehr war.

Pyromanen

Pyromanen, 1995


Hier muß ich meine Erzählung kurz unterbrechen, um etwas zu meiner Rechtfertigung vorzubringen. Ich wurde darauf hingewiesen, daß das, was ich da erzähle, so ähnlich schon ein anderer geschrieben habe, da sei es ein Clown gewesen, dem man sein "Feuer, Feuer" nicht geglaubt hatte. Ich erkläre an Eidesstatt, daß ich die Geschichte nicht kenne. Aber bei so vielen Dichterkollegen, die es heute gibt, ist es wie bei den Malern: es läßt sich nicht verhindern, daß einem etwas einfällt, was schon einem anderen gekommen ist. Homer hatte es da noch leichter, und niemand hat Goethe vorgeworfen, daß er die Faust-Erzählung wo anders abgelesen hat, ganz zu schweigen von Thomas Mann und seinem Joseph. Schließlich kommt es ja nicht nur darauf an, was man sagt, sondern vor allem wie, und immerhin ist doch mein rotes Hemdchen dem alten Clown vorzuziehen.

Nach dieser, wie man sieht, eigentlich doch ganz unnötigen Unterbrechung nun weiter in meiner Erzählung:

Die Türen wurden aufgerissen und alles drängte zu den Ausgängen. Doch draußen ging´s nicht weiter. Das ganze Haus brannte, Trümmer fielen herab, Entsetzensschreie, Hilferufe, Panik, beißender Qualm, rette sich wer kann, aber wie denn? Aus dem Fenster springen!

online

online, 1995


Entgegen meiner sonstigen Gepflogenheit muß ich jetzt ihr Augenmerk, liebe Zuhörer, in erster Linie auf mich richten, anstatt zu berichten, was Schreckliches um mich herum geschah, aber aus dem Folgenden werden sie leicht ermessen können, wie stark durch die widrigen Umstände meine Aufnahmefähigkeit und Anteilnahme am Geschick meiner Umgebung beeinträchtigt waren.

Ein brennendes Holzstück fiel mir auf den Kopf, ich roch meine versengten Haare, ein Hustenanfall, ich trat irgendwie ins Leere und fiel hin, verprellte mir die Schulter und fragte mich, ob ich nicht doch besser die Häppchen beim Oberbürgermeister gegessen hätte mit einem Glas Sekt in der Hand, aber in dem Tumult war ein Sektglas hoffnungslos verloren, ich übrigens auch, zwar witterte ich irgendwoher frische Luft, schöpfte Hoffnung und mit "lalülalü" näherte sich schon Rettung, da fiel vom oberen Stockwerk ein Möbel auf mich herab, ein riesiger Bücherschrank voll wertvoller alter Bücher, alle in Schweinsleder gebunden, das war zuviel, vielleicht, wenn ich noch jünger gewesen wäre, hätte mir das nichts gemacht, so ähnliches ist mir öfters passiert, aber in meinem Alter blieb mir keine andere Wahl, als meinen Geist unter dem geballten Anprall der Literatur aufzugeben, immerhin war es Literatur und nicht irgendein banaler Gegenstand. Schade, dachte ich noch und meinte mich, nicht die Bücher, aber so schade auch wieder nicht, um die alten Knochen und die doch schon ziemlich wurmstichigen Gehirnwindungen, außerdem wollte ich immer schon wissen, was nachher kommt, und jetzt muß ich nie mehr zum Zahnarzt.

Hahn 12

13 Versuche ein Hahn zu werden (XII.), 1978


Angesichts dieser traurigen Ereignisse, liebe Freunde, und da ich nun nicht nur mit meinem Erdendasein, sondern auch mit meinem Vortrag zu Ende gekommen bin, halte ich es nicht für angebracht, daß Sie mir, wie das so üblich ist, durch Ihren Applaus bestätigen, daß ich meine Sache zu Ihrer Zufriedenheit erledigt habe, nämlich, ohne Ihre Zeit über die Maßen in Anspruch zu nehmen, sondern erlaube mir vielmehr Sie zu bitten, sich von Ihren Sitzen zu erheben und schweigend meiner zu gedenken.