Die Amöbe und der 3. Tag

Rede von Wolfgang Lettl
zur Eröffnung der Ausstellung im Lettl-Atrium
Museum für surreale Kunst - Augsburg

am 13. Dezember 2000



Eigentlich sollte diese Ausstellung gar nicht stattfinden.

In meinem Lebensplan war nämlich vorgesehen, dass ich ab meinem 75. Lebensjahr keine surrealen Bilder mehr male, und ab 80 überhaupt keine mehr. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass Künstler, ich rede hier von den Malern, im Durchschnitt ein höheres Alter erreichen als die meisten anderen Leute, die bis zur Erreichung des Ruhestandes einer ordentlichen Berufstätigkeit mit geregelter Arbeitszeit nachgegangen sind.
Im Gegensatz zu diesen aber kennen die Kunstmaler keinen Ruhestand. Sie malen immer weiter, auch wenn offensichtlich ist, dass, sie ihren Leistungshöhepunkt längst überschritten haben. Der hat mit Phantasie, Schwung und Ausdauer zu tun und liegt, wie bei den meisten Berufen, etwa zwischen 28 und 40, wenn "Erfahrung" als leistungssteigernd hinzukommt, etwa bei 50 Jahren. Dann fällt die Kurve, zunächst fast unmerklich, doch stetig und immer steiler werdend ab, und das lässt sich bald nicht mehr verheimlichen.

Maler mit 80, ohje, die kommen sich zwar mitunter noch sehr wichtig vor, aber wenn sie überhaupt den Pinsel in ihren zittrigen Fingern noch halten können, für ein paar Stündlein am Tag: einfallen tut ihnen nichts mehr, was ihnen nicht schon öfter eingefallen ist, sie malen immer wieder das selbe.

In Anwandlungen von beginnendem Schwachsinn halten sie ihre müden Erzeugnisse für Offenbarungen eines zur Genialität gereiften Altersstils. Teils aus Pietät, teils mit Rücksicht auf die Finanzen will niemand ihre Begeisterung dämpfen, und solange sich was verkaufen lässt, ist es immer noch recht.

Solches war mir klar, als ich mir schon vor vielen Jahren Gedanken über meine spätere Zukunft machte, und weil mir auch klar war, dass man selber die Tatsache, dass es abwärts geht, lieber nicht zur Kenntnis nimmt, nahm ich meinen Lieben das Versprechen ab, zur gegebenen Zeit mir dann zu sagen: Es hat jetzt keinen Sinn mehr. Damit ich mit der Pinselei aufhören und mich endlich meinem verwilderten Garten und was sonst noch immer zu kurz gekommen ist, widmen könnte.

Statt dessen hat mir ein Freund ins Buch geschrieben, er kenne außer Tizian nur noch einen, der seine besseren Bilder im Alter malt, und das sei der Lettl.

So etwas schmeichelt und tut wohl und ist maßlos übertrieben, aber trotzdem: Was blieb mir übrig als weitermalen? Wo man sich im Alter ohnehin schwer tut, wenn man sich umstellen soll.

In dieser Ausstellung wollte ich zunächst nur Bilder aus dem Jahr 2000 zeigen, aber weil ich da nicht so viel gemalt habe, sind zwei noch von 1999 dazugekommen, ich bitte um Nachsicht. So etwas kommt schon vor. Auch das Oktoberfest geht schon im September los.

Das früheste Bild der Ausstellung "Die Operation" ist zum größten Teil schon vor meiner Bauchoperation voriges Jahr im April entstanden, fertiggestellt habe ich es Monate später, nachdem ich erst ausprobieren musste, ob meine Finger wieder funktionieren. Direkt hat es mit der Operation in meinem Bauch nichts zu tun, dargestellt ist eine militärische Operation, keine medizinische.

Wolfgang Lettl - Die Operation - 1999

Ich hatte das schon öfter behandelte symbolträchtige Thema "Brücke" wieder aufgenommen.

Diesmal ließ ich auf einer Brücke über einem schwindelerregenden Abgrund eine zeitlich nicht einordnungsbare Schlacht sich austoben. Solche Schlachtenbilder können einen starken Effekt in Bewegung, Farbe und Spannung haben, aber es wäre doch eine magere Angelegenheit geworden, wenn ich nicht mit Rücksicht auf unsere modernen Zeiten die Superwaffe einer Supermacht eingesetzt hätte. Genau den entscheidenden Moment dieses überraschenden Knalleffekts habe ich dargestellt.

Inwieweit mich der damals gerade aktuelle Kosovokonflikt dazu angeregt hatte?
Ein bisschen vielleicht.
Ein bisschen vielleicht auch die Vorahnung dessen,
was in meinem Bauch los war.

Die Operation und ihre langwierigen Komplikationen hatten mich einigermaßen mitgenommen. Die ersten Versuche nach zwei Monaten, einen Bleistift in die Hand zu nehmen und zu zeichnen scheiterten kläglich, für meine geschwundenen Kräfte war jeder Bleistift zu schwer.

Allmählich wurde es besser und mühsam gelang mir ein kleines Bildchen nach einem Entwurf, den ich von vorher noch hatte. Bald konnte ich wieder malen, aber einiges hatte sich in mir verändert. Die alte Wirklichkeit der Welt verblasste sanft und eine neue, unbekannte wie aus einer anderen Welt, drängte herein. Meine Frau drückt das anders aus. Sie meint: "Ein kleiner Tick ist dir geblieben."

So kann man es natürlich auch sehen.

Heuer im August oder September malte ich das große Bild mit dem grünen Rahmen und dem runden Turm im Wasser. Es ist eine Abwandlung des "Turms der roten Ochsen" von 1981, bei dem ein mehr oder weniger prächtiger Renaissancebau aus wuchtigem Mauerwerk mit Toren und Fenstern, gekrönt von einer marmornen Balustrade abgebildet ist.In den Fenstern stehen so richtig ochsig die Ochsen. Die surreale Verfremdung betrifft ihre Farbgebung, wenn man davon ausgehen will, dass es rote Ochsen nicht gibt.

Aber vor allem das ganze Arrangement ist unsinnig, surreal.

Wolfgang Lettl - Paranoia - 2000

In der neuen Fassung geht die Verfremdung weiter. Aus dem Bauwerk wurde eine papierene, dünne, ungegliederte Kulisse, die Ochsen, die weder rot noch Ochsen sind, schauen nicht aus Fenstern, die gar nicht da sind, an ihrer Stelle sind die wildgewordenen Vorderteile von vier tierähnlichen flachen Gestalten an die Wand montiert.

Das neue Bild mit seinem aufgeregten grünen Himmel wirkt unheimlich. Nicht in dem Sinn, dass es schreckt oder abstößt: Es macht vielmehr betroffen und ratlos. Die Welt ist sich selbst fremd geworden. Der alte "Turm der roten Ochsen" war dagegen eine harmlose Idylle mit nur am Rand ein paar Bosheiten, einer Parodie auf sich sehr wichtig nehmende Positionshalter wie sie so immer und überall vorkommen. Irgendwas hatte sich in mir geändert. In der Welt auch, natürlich. Da ändert sich immer etwas.

Das Klima z.B. Es ist wärmer geworden.
Es ist aber auch kälter geworden, das Klima.

Jemand hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass in meinen Bildern so häufig die Vierzahl vorkommt, was das bedeuten soll?

Ich wusste es nicht und habe nachgezählt und nachgedacht:
Vier Himmelsrichtungen, vier Jahreszeiten, vier Farben beim Kartenspiel, vier Evangelien, vier Seiten beim Rechteck, vier Beine bei den Vierbeinern usw.

Vier ist vielleicht die Zahl, mit der man im Bild mit dem geringsten Aufwand "mehrere" andeuten kann, aber so, dass die Anordnung leicht überschaubar bleibt. "Drei" erfasst man schnell mit einem Blick, bei "fünf" beginnt schon das Nachzählen.

Wolfgang Lettl - Der 3. Tag - 2000

Beim "3.Tag" - ich meine das Bild mit dem Namen "Der 3.Tag" - beim "3. Tag" also gibt es da noch keine Schwierigkeiten. Da sind es eigentlich auch keine vier, sondern zwei mal zwei und diese zwei mal zwei sind nur ein Paar, bzw. sind es gewesen. Der Mensch kann allein nicht existieren, es müssen mindestens zwei sein.

Das sagte sich vor langer, langer Zeit schon der Ur-Amöb,
und spaltete sich.

Auf meinem Bild sind die Menschen gespalten. 2 ist 4x 1/2. Meine gespaltenen Menschen sind hohl und leer. Das ist eine traurige Feststellung, wenn man annehmen muss, dass sie häufig mit der Wirklichkeit übereinstimmt.

Dann ist mein Bild ein trauriges Bild.
Es wird noch trauriger, weil seine Aussage
auch "Auseinandergehen" ist.

Man hat sich nichts mehr zu sagen. Die Liebe ist offensichtlich nicht mehr das, was sie einmal war, oder sie will nicht mehr das sein, was sie einmal sein sollte. Die Ehe auf Dauer ist aus der Mode gekommen. Das muss zur Kenntnis genommen werden.

Um die Menschheit einigermaßen geordnet vor dem Aussterben zu schützen müssen wir wohl eine neue Methode finden. In meinem Bild ist sie angedeutet: Wir sollten uns durch Spaltung vermehren. Die Amöben machen's uns vor. Die Wissenschaft muss uns zeigen, wie das geht. Den Sex brauchen wir dazu nicht mehr, der wird von allen lästigen Begleiterscheinungen befreit, das kriegen wir schon hin.

Das amöbile Nebeneinanderherleben zweier Menschenhälften bzw. zweier Halbmenschen als "eheähnliche" Gemeinschaft anzuerkennen wird schließlich auf keine unüberwindlichen Schwierigkeiten stoßen, auch diese Verhältnisse müssen so geregelt werden, dass sie finanziell gegenüber den noch vorhandenen Ehen älterer Art nicht benachteiligt werden. Wenn nicht sofort, dann aber auf alle Fälle vor der nächsten Wahl.

Wolfgang Lettl - Die Belagerung Magdeburgs - 2000

Als ich mich daran machte mir zu überlegen, was ich Ihnen heute sagen könnte, hatten die letzten sechs Bilder noch keine Titel, mit Ausnahme des Bildes mit dem Fischkopf, der über acht tanzende Beine gestülpt ist. Es sind acht verschiedene Beine, nicht 4 Paare, und sie bilden ein ziemliches Durcheinander. Was mich schon an der ersten Bleistiftskizze fasziniert hatte, und das ich noch durch die Farbgebung steigern konnte, war das Zusammenspiel der Gegensätze zwischen dem graugrünblauen dunkelsteinigen Klotz des Fischkopfes mit dem angstgelben Auge und darunter dem spöttisch-ausgelassenen Gewuzel der hellbunten Beine. Irgendwie erinnert mich das Bild an Goya oder Kubin, oder an die Zeit des 30jährigen Krieges, nach dem es schließlich seinen Namen bekommen hat: "Die Belagerung Magdeburgs".

Der Sonnenaufgang an der Adria ist heute noch so großartig wie zu Odysseus´ Zeiten, wenn man nur gelernt hat und bereit ist, die massenhaft herumliegenden Plastikflaschen und sonstiges Zivilisationsgerümpel wegzudenken. Wenn man sich dann noch Tod und Hass und Neid als noch nicht erfunden vorstellen kann, entfernt man sich zwar weit von unseren jetzigen Gegebenheiten, aber im Bild ist das schon erlaubt. Dann gibt es keine Gegensätze und keine harten Schatten, nur Licht, Freude und Seligkeit.

Aber das schaffen wir noch nicht.

Wolfgang Lettl - Bleiben wir noch ein wenig in der Wirklichkeit - 2000

"Bleiben wir deshalb noch ein wenig in unserer Wirklichkeit". So ähnlich heißt mein zuletzt gemaltes Bild. Ein bisschen Härte und schwarze Schatten tun doch gut. Außerdem brauchen wir Tiefe. Vorne etwas, das nach hinten führt und nicht nur die Leichtigkeit der Fische und Puppenköpfe glaubhaft macht, sondern auch der Wucht der rot aufgehenden Sonne das Gleichgewicht halten kann. Will noch jemand behaupten, dass nicht auch eine versehentlich liegengebliebene Beißzange schön sein kann?

Was ist schön?

Ich glaube, da gibt es keine eindeutige Antwort.
Fragen wir nach dem Gegenteil: Hässlich? Nein, auch hässlich kann noch schön sein. Das Gegenteil von schön ist: trostlos.

Auf einem der Zettel, die ich zur Vorbereitung dieser Rede bekritzelt habe, steht die Bemerkung: "Schönheit hat ihren Grund im Schöpferwillen Gottes. Wie sollte anders eine Blume, ein Schmetterling, ein Kristall oder das Morgenrot auf die Idee kommen, schön sein zu sollen? Ich glaube, da gibt es keine eindeutige Antwort. Fragen wir nach dem Gegenteil: Hässlich? Nein, auch hässlich kann noch schön sein. Das Gegenteil von schön ist: trostlos.

Als mir dieser Satz eingefallen war, habe ich mir selber auf die Schulter geklopft, so gut hat er mir gefallen, und womöglich stimmt er sogar.

Ich war versucht, diese Gedanken noch weiter auszuwalzen und Betrachtungen über die Kunst im allgemeinen und die der letzten zwei Jahrhunderte im besonderen anzustellen, über ihre großartigen Leistungen einerseits und dem produzierten Quatsch andererseits. Ich hätte mich vielleicht dazu verstiegen, Zukunftsperspektiven zu entwerfen und Befürchtungen anzuzeigen.

Da sagte mir meine innere Stimme rechtzeitig: Halt!

Und so kam ich nicht in Gefahr in anmaßende Gescheithuberei abzugleiten oder in abgeschmacktes Geschmalge.

Ihnen ist es doch lieber so?
Mir auch.