Die Seele in den Himmel werfen
Gedanken von Paul Rieger zum Bild "Die Begegnung" von Wolfgang Lettl
Sonntagsblatt, Evangelische Zeitung für Bayern, Sonntag 16. Februar 1986, Nr. 7
Wolfgang Lettl, ein Augsburger Künstler, hat dieses Bild gemalt. Es hing auf der Ausstellung, die während
der Herbstsynode in Ingolstadt zu sehen war. Viele Besucher blieben davor stehen, einige gerieten ins Sinnen,
andere schüttelten den Kopf.

Wolfgang Lettl "Die Begegnung" (1985)
Das Meer liegt weit, blau und glatt; mitten darinnen eine halbe Brücke und weiter hinten die andere
Hälfte: Begegnungen? Weit und breit kein festes Land, kein Ufer zu sehen! Die Brücke aber steht; sie ist
zierlich gebaut, das Geländer läuft schmuck entlang an Treppe und Plattform, gefasst zwischen
anmutigen Steinblöcken. Die Marmorstufen glänzen sauber und hell, werfen das Licht der wohlgestalteten
Laternensäulen zurück ins Wasser. Menschen stehen auf der Plattform, einer ersteigt die letzte Stufe,
lauter Erwachsene.
Einige Leute sind ganz nach vorne getreten, wo die halbe Plattform der Brücke hart endet; sie schauen umher.
Es regnet. Sie haben Hüte auf, haben Regenschirme aufgespannt.
Das Ende der Halbbrücke ist an der Bruchstelle sauber verputzt.
Meer, das ist Symbol, Ursprung des Lebens. Dort in den Tiefen fügt sich, was geboren nach oben gehoben wird,
aus dem Wasser heraus, muss ans Licht. Die Lebenstreppe beginnt. Angestrengt und eifrig erklimmt das Kind die
ersten Stufen, hoffnungsvoll, manchmal leise zweifelnd, stürmt der junge Mensch die nächsten Reihen. Die
letzte Stufe ist erreicht Endlich oben: Ich bin erwachsen! Weiter bewegt sich das Leben nach vorne auf ebener Bahn
bis... ja bis die Bruchkante sichtbar wird. Unser Leben geht nicht ewig weiter.
Die Brücke, das Leben - um Gotteswillen - ist gar keine Brücke.
Was tun? Es beginnt die Geschäftigkeit: Leute, Leute putzt die Treppen blank, damit das Licht sich spiegeln
kann! Leute, achtet auf die Laternen, füllt Petroleum nach, damit sie nicht verlöschen, denn es ist
dunkel und es regnet! Leute, putzt die Scheiben der Lampen, damit sie heller scheinen! Leute, helft einander die
Treppen empor, das ist nächstenlieb und christlich. Wer einen Regenschirm hat, lasse den anderen mit
unterstehen, auch das ist christlich! Verteilt Regenschirme, es regnet stark; überall in der Welt stehen die
Menschen im Regen, brauchen Regenschirme, schafft Regenschirme herbei, produziert Schirme, näht Schirme und
Hüte. Schirme und Hüte für die Welt, Hüte und Schirme für alle Menschen!
Aber die Brücke endet. Sollte man nicht versuchen, die Plattform zu verlängern, um einen Meter, um zwei,
um drei? Aber sie endet wieder. Was sollen wir tun angesichts eines Endes? Wo ist Trost in der Trostlosigkeit wenn
es regnet auf einer Brücke, die nirgends hinführt, aber endet: Eines Tages werde ich wieder
hinunterfallen ins Meer, woher ich kam.
Vielleicht werde ich hinuntergestoßen von einem, dem ich auf der Plattform im Wege stehe: 0, sinnlose
Robustheit, törichter Erfolg!
Die Kirche, die Christen, haben sie nichts dazu zu sagen?
Helft einander die Treppen hoch!
Stoßt euch nicht von der Plattform!
Schirme für die Welt!
Haltet Frieden untereinander!
Ist Kirche nur eine Sozialaufführung, ein Sozialdrama, eine Sozialtragödie?
Angesichts eines Endes!
Oder ein Politspektakel:
Neue Ordnungen auf der Plattform: Alle gleich!
Angesichts eines Endes?
Das Bild scheint, verzweifelt trostlos. Doch zeigt es dem, der genau hinschaut, eine leise Hoffnung. Über der
Brücke am Himmel gibt es helle Flecken. Ein Licht scheint dort zu schimmern, das nicht von Laternen kommt. Es
fällt von oben ein.
Vielleicht geht es dort weiter?
Ja, es gibt nur einen Ausweg:
Ich muss meine Seele dort hinüber in den Lichtfleck des Himmels werfen. Aber das ist schier
unmöglich. Meine Seele ist zu schwer; an ihr hängen die mächtigen Steine der Schuld, das Gewicht der
Sorgen, die Ketten der Geschäftigkeit: Es ist doch so fromm, immer für andere dazusein; da hat man keine
Zeit fürs Werfen nach oben und obendrein ein gutes Gewissen. Aber angesichts eines Endes?
0 Gott, die Brücke führt nicht weiter; ich muss werfen; ich will nicht sterben. „Gott sei
meiner Seele gnädig", bitten wir in höchster Not. So geschieht das Wunder: Ich habe geworfen, aber wo ich
meinte, endgültig zu fallen, war er da. Im Fallen fasst er meine Hand, wie Vater und Mutter ein Kind
fassen, und sagt: „Komm wieder, mein Menschenkind!"
Überwältigt werde ich wie der verlorene Sohn, der nichts mehr zu werfen hatte, aber der Vater umarmt ihn.
Angenommen werde ich wie der Schächer am Kreuz; im letzten Augenblick, bevor ich im Meer der Dunkelheit versinke:
gerettet werde ich wie Petrus, der den Schritt ins Meer wagte, versank und schrie: „Herr, hilf mir!" Jesus
aber streckte die Hand aus, ergriff ihn und sprach zu ihm: „Warum hast du gezweifelt, du
Kleingläubiger?" Gott rettet den Glaubenden. Darum, wirf deine Seele hinüber!
Wenn Kirche und Christen nicht mehr davon reden, enden alle ihre Dome, Häuser und Werke. Gott selbst ist
Brücke, unser Leben nur der Anfang zu ihm hin. Erst wenn Gott die Brücke bleibt, werden die Begegnungen
mit dem Nächsten hell und sinnvoll.
Treppen säubern, Lampen putzen, Regenschirme aufspannen, Hüte verteilen, das alles bekommt Sinn, bleibt
aufgetragen, wenn sie Stufen auf der Brücke Gottes werden, sein Licht widerspiegeln. Brot und Worte, beides
sind wir Christen schuldig, der Welt zu geben und zu sagen.
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