Surrealismus in Bayern?

Rede von Wolfgang Lettl
zur Ausstellungseröffnung
in der Bayerischen Landesbank München
am 12. Januar 1999


Liebe Kunstfreunde,

ob meine Kunst als "Surrealismus" zu bezeichnen ist, diese Frage ist schwierig, aber auch überflüssig, denn "Surrealismus" läßt sich zwar übersetzen als das, was "über der Wirklichkeit" ist, was das aber für eine Kunstrichtung besagen soll, da kann sich jeder denken, was er will. Im gebräuchlichen Sinn bezeichnet "Surrealismus" jene Kunstrichtung, die nach dem 1. Weltkrieg hauptsächlich um Paris herum entstanden ist und deren Protagonisten in einer mehr oder weniger festen Gruppe Kontakt zueinander hielten. Sie verstanden sich als Revolutionäre, und als Maler und Dichter glaubten sie, mit ihren Ideen die Welt einer glücklicheren Zukunft nach ihren Vorstellungen entgegenführen zu können.

Lange Zeit, und ein bißchen immer noch, war Surrealismus als abseitig verpönt und das war kein Wunder, denn etliche seiner Vertreter gaben sich alle Mühe, sich verrückt zu benehmen und jedermann einerseits mit ihrer Arroganz vor den Kopf zu stoßen und sich andererseits mit pseudo-philosophischen Hanswurstereien interresant zu machen. Aber unter diesem oft lächerlichen im übrigen aber Medien wirksamen Erscheinungsbild verbarg sich seelische Not und Zweifel an allem, an Gott und jeglichem Sinn des Daseins. Sinnlosigkeit und Kälte, Zynismus und Frivolität sprechen aus ihren Bildern, und immer wieder das krankhafte Bedürfnis, zu provozieren. Sie müssen entschuldigen, wenn ich so vereinfachend kurz über eine komplexe Erscheinung spreche, aber ich bin kein Kunstkritiker oder ähnliches, sondern ein Maler, der sich angewöhnt hat, mit seinem eigenen Kopf zu denken und kurz schildert, was er von seinem Standpunkt aus sieht, ohne indes diesen als den einzig möglichen zu halten. Meine Rede will ja keine Abhandlung über Surrealismus sein, sondern eine kurze Selbstdarstellung zur Eröffnung dieser Ausstellung.

Daß unsere Zeit seelisch krank ist, daran, glaube ich, zweifeln nur diejenigen, die so krank sind, daß sie es selbst nicht merken. Man kann allerdings sagen, seit Adam und Eva waren alle Zeiten krank, von einigen lichten Augenblicken abgesehen. Unser Jahrhundert aber war und ist immer noch besonders davon betroffen. Wir alle sind davon betroffen: die Winterkälte der Gottverlassenheit verspüren auch wir.

Die Erscheinungsformen des Surrealismus sind Symptome dieser Krankheit. Auch wir kennen sie und müssen damit leben und darin gründet wohl die eigenartige Sympathie, die wir oft für surrealistische Bilder empfinden. "Sympathisch" heißt ja "mit dem selben Leid behaftet".

Es wäre aber doch zu einfach, Surrealismus nur unter dem Aspekt der Krankheit zu sehen und ihn sozusagen als Verfallserscheinung abzutun. Sicher glaubte er sich berufen, alles was bisher Kultur war, in Frage zu stellen und lächerlich zu machen. "Dada" war in dieser Beziehung der extremste Fall. Aber die Surrealisten träumten auch von neuen Wegen, von noch nie Dagewesenem. Entsprechend den revolutionären Erkenntnissen der Psychoanalyse von der Bedeutung unbewußter Seeleninhalte versuchten sie, diese mit verschiedenen Methoden ans Licht zu bringen. Das wäre an sich noch keine ganz neue Sache gewesen, denn immer schon war in der Kunst das Überzeugende, Überwältigende nicht das auch in Worten zu beschreibende Sujet, sondern das "wie" der Darstellung, das nicht in den rationalen Überlegungen begründet ist, sondern im künstlerischen Einfall, was etwas völlig anderes ist. Auch die Methode, im Bild die verschiedensten unzusammenpassenden Dinge zusammenzubringen, ist schon in der Antike bekannt und diente immer wieder dazu, das Unvorstellbare im Bild anschaulich zu machen. Die Ägypter versahen ihre Götter mit Tierköpfen.

Neu am klassischen Surrealismus war, mit welcher Konsequenz und Ausschließlichkeit solche Methoden gehandhabt wurden, die zu überraschend schönen Ergebnissen und zu großer Anerkennung dieser Kunstrichtung führten, die, auch wenn es uns nicht immer bewußt ist, unsere Welt verändert hat.

Damals, als die ersten bedeutenden Werke des Surrealismus entstanden, war Deutschland von modernen Strömungen in der Kunst bald völlig isoliert; meine Geburtsstadt Augsburg war, soviel ich mitbekam, nur ganz schüchtern vom Impressionismus beleckt. Wohlwollend betrachtet kann ich die künstlerischen Einflüsse meiner frühen Jugendzeit als "romantisch-biedermeierisch" bezeichnen. Meine Hinwendung zum Surrealismus kam auf verschiedenen Wegen. Der Krieg verschlug mich einige Jahre nach Paris und dort schnupperte ich Großstadtluft, lernte die Franzosen schätzen und sah auch ab und zu surrealistische Bilder, die ich zunächst ablehnte, mit der Gewöhnung aber immer mehr bewunderte. In der zweiten Kriegshälfte war ich Flieger und ein gütiges Geschick verhinderte, daß ich jemals einen Feind zu sehen bekam oder schießen mußte. Wir hatten Langeweile, zumal in den dunklen norwegischen Wintern, und verlegten uns aufs Blödeln. Wir blödelten mit Wortverdrehungen, da kam manches nicht salonfähiges heraus. Aber auch Überraschendes: Wo in Schillers Glocke "rohe Kräfte sinnlos walten" wurde "wo rohe Wälder kraftlos sinnen", was zwar für den Verstand völlig sinnlos erscheint, aber ein wunderbares Bild ergibt, wogegen Schillers Halbsatz müde und farblos wirkt. Dies nur als kleines Beispiel dafür, wie surreales Denken und Empfinden in mir und nicht nur in mir veranlagt waren und im Erleben der Sinnlosigkeit des Krieges ihre Berechtigung erfuhren.

"Surrealismus ist längst passe´." Wer das sagt meint wohl die "klassischen" Surrealisten, die inzwischen schon alle gestorben sind, oder er hält Surrealismus für eine kurzlebige Mode, wie viele andere auch. Er ist tatsächlich mehrmals Mode geworden, aus oberflächlicher Begeisterung geboren und bald zu öder Langeweiligkeit erstarrt. Aber so wie ich ihn verstehe, ist er eine Grundhaltung, die in der Kunstgeschichte immer wieder mächtig durchbrechen und sich erneuern kann. Ob sich das dann jeweils "Surrealismus" nennt, ist belanglos.

"Surrealismus in Bayern" oder "bayerischer Surrealismus" zugegeben, das klingt etwas sonderbar. Meines Wissens haben sich weder Alfred Kubin noch Karl Valentin als Surrealisten bezeichnet und wer in Bayern surrealistisch malte war bei genauerem Hinsehen meist kein Bayer. Im Erfinden von Kunstrichtungen und einem passenden Namen dazu gehörten die Bayern nie zur Avantgarde. Übrigens "Avantgarde". Warum eigentlich diese altertümliche Entlehnung aus dem Militärvokabular? Waren das nicht die armen Hunde, die man vorausschickte um herauszubekommen, wo der Feind steckte, und um die es den Generälen nicht allzu schade war?

Auch das Rokoko war keine bayerische Erfindung. Versailles war viel früher. Aber im bayerischen Barock und Rokoko ist es gelungen, den Himmel auf die Erde zu bringen in einer Zeit, als die Franzosen schon wieder viel weiter waren.
Aber wie sieht die Gegenwart aus?

Als Maler erlebt man schon einiges. Da kommt eine Dame, sie sucht ein Bild, das zu ihrem grün-lila gestreiften Sofa paßt und zu der geblümten Tapete dahinter. Sollte die wirklich dümmer sein als die Künstler, die glauben Sperrmüll in den Rang eines Kunstwerks erheben zu können, indem sie ihn signieren, in eine Kunstausstellung bringen und mit einer Nummer versehen? Beim ersten Mal war das ja ein ganz netter Gag, wie die leergelassene Leinwand auch und ähnliches mehr. Man kann es aber auch als Bankrotterklärung sehen. Jedenfalls ist die Anhäufung solcher "Einfälle" inzwischen nicht mehr originell und macht moderne Kunstausstellungen so entsetzlich langeweilig. Meiner Meinung nach darf aber Kunst alles, nur nicht langeweilig sein. Langeweiligkeit beleidigt die Schöpfung. Und was ist von Zeitgenossen einschließlich Kulturbeamten zu halten, die mangels Phantasie und Urteilsvermögen und aus Angst, sich zu blamieren, sich lieber auf das Geschwätz selbsternannter Kunstpäpste und deren Nachbetern verlassen, als zu riskieren, als "unmodern" zu gelten? Die sehen nicht einmal, daß der Kaiser in Andersens Märchen nackt ist.

Fortschritt ist eine Funktion der Zeit und infolgedessen unabhängig davon, ob wir ihn wollen oder nicht. Wir können uns ihm verschließen und versuchen, einer Vergangenheit anzuhängen, von der wir mit mehr oder weniger Berechtigung annehmen, sie sei besser gewesen. Aber das macht keinen Sinn. Vergangene Kunst bewundern und davon zu lernen, ja, aber das darf kein Alibi dafür sein, für die gegenwärtige Kunst nur ein Achselzucken zu haben und abzuwarten, ob sie sich in der Zukunft durchsetzt. Die Kunst unserer Zeit entscheidet, ob wir das drohende Chaos bewältigen oder nicht. Oder sie zeigt uns an ob und wie weit wir schon in die Bedeutungslosigkeit, in sehr geschäftige Bedeutungslosigkeit wohlgemerkt, abgesunken sind. Sind wir auf dem Weg in eine neue Barbarei, in der die Kunst zwar ihren Platz, aber keinen Sinn mehr hat, zur Geldanlage herabgewürdigt oder als Tummelwiese für gelangweilte Snobs? Ist uns aus lauter Siebengescheitheit und Anspruchsdenken der Sinn verlorengegangen für alles, das nicht auf dem Konto erscheint? Und die Künstler? Wer sich wirklich mit der Definition zufriedengeben will: "Kunst ist alles, was ein Mensch macht", der landet schließlich beim Kunsthonig.

Joachim Fest hat im Zusammenhang mit einer Würdigung Michelangelos einen Seitenblick auf unsere Gegenwart geworfen und geschrieben (ich zitiere aus dem Gedächtnis): "Früher hat die Kunst die Künstler zerstört, heute zerstören die Künstler die Kunst."

Mitunter erscheinen Publikationen, die diesen "Kunstzerfall" anprangern. Ich habe aber noch keine gefunden, die Besseres zu bieten gehabt hätte. Nur den Versuch an Zeiten anzuknüpfen, die nun mal die unseren nicht mehr sind.

Mir als Maler blieb trotz aller ungünstigen Ausgangsbedingungen die immer offene Möglichkeit, Besseres zu machen und in Ausstellungen zu zeigen, daß Kunst ihrem innersten Wesen nach frei und schöpferisch ist und begeistern kann. Der Weg war lang und mühsam. Mitunter stand ich ziemlich einsam da.

Mit der Errichtung meines Museums 1993 im Atrium der IHK für Augsburg und Schwaben war ein erstes Ziel erreicht. Die Akzeptanz durch die Kammer, die Reaktionen des Publikums und die Eintragungen im Gästebuch des Atriums zeigen mir, daß es wieder einmal richtig war, nicht mit dem großen Haufen zu laufen. Die Bayerische Landesbank gibt mir die Möglichkeit, in ihrer Galerie Bilder auszustellen, die nicht in Augsburg im Museum gezeigt werden und die großenteils ab 1993 entstanden sind. Hierfür danke ich herzlich. Ihnen allen wünsche ich viel Freude und Nachdenklichkeit beim Betrachten meiner Werke.